Emotionen

Veröffentlicht am 18. September 2024 um 21:08

Hast du schonmal ein Buch gelesen, das dich so eingenommen, so gefesselt hat, dass du alles andere um dich herum ausgeblendet hast? Und dann kommt plötzlich von irgendwo ein Geräusch oder jemand spricht dich an und du wirst herausgerissen. Ein Sog holt dich in die wahre Realität zurück, für den Bruchteil einer Sekunde sind alle Erinnerungen weg und dann puzzelt sich das Hirn die Umgebung Stück für Stück zusammen und du weißt plötzlich wieder deinen Namen, deine Adresse und was du gestern zum Mittagessen hattest. Wie ätzend!

So ungefähr fühlt es sich für mich an, wenn ich mitten in einer intensiven Schreibphase bin und dann gestört werde. Ich möchte euch ein kleines Erlebnis erzählen, das ich die letzten Tage hatte. Dazu hole ich mal kurz aus.

 

Wie schreibe ich?

Das kommt ganz auf den Text an, den ich verfassen möchte. Verschiedene Textarten erfordern verschiedene Schreibarten. So sehe ich das.

Handelt es sich um einen Blogeintrag wie diesem hier, schreibe ich von Anfang an alles digital auf dem Laptop. Es geht hier um einen einmaligen Text, den ich, nachdem er veröffentlicht wurde, nie wieder bearbeiten werde. Da muss ich nichts auf Papier vorschreiben. Ich setze mich an einen gemütlichen Ort, mache Musik an und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Heißt, ich mache mir, abgesehen von einem Thema, vorher nicht einmal Notizen. Aktuell sitze ich noch im Schlafanzug auf der Couch. Gerade hatte ich grünen Tee und im Hintergrund läuft Somewhere I belong von Linkin Park.

Einmal am Tag versuche ich, in ein kleines Notizbuch meine Gedanken und Erlebnisse reinzuschreiben. Und zwar ausschließlich mit der Hand. Allein der Gedanke, am Computer Tagebuch zu schreiben, bereitet mir Unbehagen. Denn ein Computer hinterlässt immer Spuren, gerade wenn er mit dem Internet verbunden ist. Tagebücher sind dazu da, unsere intimsten Gedanken festzuhalten. Wenn ich sie vernichten will, kann ich das Notizbuch einfach verbrennen. Das mit meinem Laptop zu tun müsste ich mir zweimal überlegen.

Ideen für mein Buch schreibe ich sowohl mit der Hand, als auch am Laptop und am Handy. Denn diese hinterhältigen Gedanken kommen meistens dann, wenn ich gerade KEINE Zeit habe, mein bevorzugtes Medium zu nutzen. Da muss ich auf alles vorbereitet sein. Sitze ich in der Bahn tippte ich Ideen am Handy ab. Sitze ich im Urlaub vor meinem Zelt, hält das Notizbuch her. Bin ich Zuhause, wäge ich ab, wie entwickelt die Idee ist. Entsteht sie gerade erst, schreib ich sie per Hand ins Notizbuch. Denke ich schon eine Weile darüber nach, versuche ich, sie in einer separaten Worddatei am Laptop auszuarbeiten.

Schreibe ich einen Song, dann meistens auf einem herumfliegenden Zettel.

 

Schreibtrance

Hin und wieder, wenn ich an meiner Geschichte schreibe, dann „fühle ich die Szene“ richtig. Sagen wir, es muss etwas in der Handlung passieren, damit die Figuren sich entwickeln oder weiterkommen können. Dann muss ich mir Gedanken darüber machen, was genau passieren soll. Wie soll die Figur sich entwickeln, was ist der Auslöser? Das sind für mich Schlüsselszenen, ohne die das Buch langweilig wäre. Einschneidende Veränderungen sozusagen. Diese Szenen muss ich wegen ihrer Wichtigkeit so gut kennen, dass ich ganz genau weiß, was ich da schreibe. Ich muss sie so aufschreiben, als hätte ich sie selbst erlebt. Diese Szenen müssen zu meinen eigenen Erinnerungen werden.

Stell dir vor, du erzählst deinen Freunden von einem Erlebnis aus deinem Urlaub. Da keiner von ihnen dabei war, musst du alle Details kennen, die für die Erzählung wichtig sind. Aber da du das alles ja selbst erlebt hast, ist es kein Problem. Du kramst in deinen Erinnerungen und beginnst zu sprechen. Und jetzt überleg mal, wie du dich dabei fühlst. Keiner wird deine Geschichte anzweifeln, weil du genau weißt, dass sie wahr ist, denn du hast sie so erlebt.

Jetzt kommt jemand, der dabei war, vielleicht deine Eltern oder der / die Lebenspartner*in und erzählt irgendwas, was gar nicht dazu passt, um die Story aufzuwerten oder weil die Situation verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bot. Wie fühlst du dich jetzt? Angegriffen? Nicht für voll genommen? Wenn mir sowas passiert, breitet sich immer ein komisches Gefühl in meiner Brust aus, ein Gefühl, das dem Erzählten widerstrebt. Ein Gefühl, das mir sagt: Du kennst die Wahrheit und nur das, was du sagst, ist richtig.

Wenn ich schreibe, habe ich manchmal genau dieses Gefühl. Ich nenne es die Schreibtrance. Sie kommt, wenn ich eine Szene beim Schreiben wirklich intensiv erlebe. Ich kann beim Tippen sehen, wie sie passiert, ich fühle, was die Charaktere fühlen, mit jedem Wort, das ich hinzufüge, schreitet die Szene voran. Ich weiß genau, dass das nicht meine Erinnerungen sind, aber ich weiß trotzdem haargenau, was ich sagen will.

Diese Schreibtrance ist auch verantwortlich dafür, dass ich mich mit meinen Charakteren identifizieren kann. Kenne deine Figuren heißt es. Begegne ich ihnen in einer Schreibtrance, ist es, als würden wir wirklich Zeit miteinander verbringen. Das heißt nicht, dass es jede Szene, die ich in diesem Zustand schreibe, ins Buch schafft. Die meisten stapeln sich in meiner „Nette Idee, aber nein“- Kiste oder auf meiner Festplatte. Trotzdem wachsen die Figuren auch mit Szenen, die ich später verwerfe. Und davon habe ich wirklich, ja wirklich sehr viele.

 

Emotionen beim Schreiben – Mein Erlebnis

Je mehr ich schreibe, desto mehr Zeit verbringe ich mit meinen Charakteren und der Geschichte. Sie sind mir mittlerweile echt ans Herz gewachsen, jeder einzelne von ihnen. Oft habe ich Phasen, in denen ich mich immer nur um einen von ihnen kümmere. Dann arbeite ich wochenlang an der Vergangenheit von Figur B herum, obwohl Figur A mein Protagonist ist. Und dann, zu einer anderen Zeit, vernachlässige ich Figur B über Monate und kümmere mich nur um Figur A.

Seit Anfang des Jahres schreibe ich mit Scrivener. Auf der Suche nach professionellen Schreibprogrammen, die mir mehr Möglichkeiten als Word bieten, bin ich darauf gestoßen. Die 30 Tage Testversion und das interaktive Tutorial, das das Programm mitbringt, kann ich nur empfehlen. Auf jeden Fall ist meine Lieblingsfunktion die, dass ich in einem gesplitteten Bildschirm zwei Texte nebeneinander anzeigen lassen kann. Da ich zurzeit in der Überarbeitung meiner Rohversion stecke, hatte ich links den alten Text und rechts eine leere Seite, auf die ich den Text nochmal neu in verbesserter Form aufschreiben wollte.

Ohne zu viel vom Inhalt zu verraten (das kommt noch, keine Sorge), handelt es sich bei der Figurenentwicklung meines Protagonisten nicht um die klassische Heldenreise, aber um Teile davon. Sprich, am Anfang ist noch alles gut und dann passiert ein einschneidendes Ereignis was den Charakter zwingt, in dieser Geschichte mitzuspielen.

Ich war also gerade dabei, das einschneidende Erlebnis aufzuschreiben. Der Protagonist befand sich im Ausgangszustand, so, dass die Geschichte gähnend langweilig geworden wäre, hätte ich hier aufgehört zu erzählen. Weil ich nach einer bestimmten Beschreibung gesucht habe, habe ich kurz auf der linken Seite ein Dokument geöffnet, das mitten in der Geschichte spielt.

Plötzlich hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich las die von mir geschriebenen Zeilen und mir wurde erneut klar, was da eigentlich für ein Hammer auf ihn zukommt. Ich sah zwei Bilder vor mir. Gesplittet. Wie mein Bildschirm. Links ist noch alles gut. Rechts nicht. Auf beiden war der Protagonist zu sehen. Einmal fröhlich, einmal niedergeschlagen. Ich empfand Mitleid. Ich WUSSTE, was auf ihn zukommt. Ich WUSSTE, dass das nicht leicht wird, aber dass genau das sein Weg ist. Am liebsten hätte ich aufgehört. Hätte ihm erspart, was ich mit ihm vorhabe, doch auf der rechten Seite blinkte der kleine Strich in der Wortzeile, der mir warnend mitteilte: Wenn du es nicht machst, macht es keiner. Und wenn es keiner macht, wirst du dein Buch nicht veröffentlichen. Also schreib!

Ich schrieb also weiter, erzählte, wie er fröhlich seinen Morgen verbringt und hörte wieder auf. Mein Charakter rannte geradewegs in sein Verderben und ich lenkte ihn dahin. Diesen unschuldigen Menschen! Mein Herz… wie kann man nur so krasse Emotionen für eine Figur entwickeln, die lediglich im eigenen Kopf lebt? Er ist nur ausgedacht, das passiert nicht wirklich! Vielleicht zeigt mein Zögern, dass ich bereits viel zu tief in dieser Geschichte verwurzelt bin. Vielleicht beweist es auch mal wieder, dass ich im wahren Leben eigentlich ein sehr friedfertiger Mensch bin und keinem wünsche, etwas Schlimmes durchzumachen. Oder dass ich doch mehr Empathie besitze, als ich mir eingestehen will. Auf jeden Fall ist mir das vorher noch nie passiert. Zumindest nicht auf die Art, dass ich mich überwinden musste, den Charakter auf seine Reise zu schicken.

 

Andere Emotionen

Einmal bin ich morgens aufgewacht und hatte eine Eingebung. Ich lief ins Wohnzimmer, schnappte mir meine Westerngitarre und spielte meinen Lieblingsakkord: Amoll. Da war eine Idee. Ich zupfte ein wenig herum, fügte zwei weitere Akkorde hinzu und begann ganz vorsichtig zu singen, was in meinem Kopf vorging. Es passte zum Takt, den Text kritzelte ich auf ein Stück Papier, probierte ein wenig herum, nahm mich mit dem Handy auf… Keine Ahnung, wie das professionelle Musiker machen, aber so muss sich das anfühlen, wenn einen „die Muse küsst“. Dieser Song beschreibt die Situation eines der Charaktere aus seiner Sicht. Seine Emotionen kommen dabei ganz gut rüber und ich bin stolz auf das Ergebnis. Danach habe ich noch ein paar Mal versucht, diese Kreativität musikalisch zu erzwingen, was sich als Zeitverschwendung herausgestellt hat.

Ich schreibe an dieser Geschichte seit 14 Jahren. Und diese super krass intensiven Momente sind so selten, dass ich sie an einer Hand abzählen kann. Aber ich freue mich über jeden Einzelnen.

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