
An dieser Stelle möchte ich jeden einzelnen von euch einmal dazu einladen, bei meinem Gedankenspiel mitzumachen. Ich weiß nicht, ob ihr das schon einmal ausprobiert habt, aber wenn ja, dann schreibt mir gerne, was eure Erfahrungen damit waren.
In allen möglichen Ratgebern, die man online findet oder kaufen kann, heißt es, man muss seine Charaktere kennen, wenn man ein Buch über sie schreiben will. Was ja auch total Sinn macht, finde ich. Woher sollten wir sonst wissen, wie sie auf die Situationen, in die wir sie bringen, reagieren? Ein ruhiger Charakter wird wohl kaum ausrasten, wenn er bei Brettspielen verliert, wogegen eine aufbrausende Figur auch nicht ruhig sitzen bleiben kann, wenn sie im Lotto gewinnt. Es gibt so viele unterschiedliche Charaktereigenschaften. Wisst ihr, wer eure Protagonisten sind? Also, wer sie wirklich sind?
In meinem Gedankenspiel geht es darum, dass ihr als Autor*innen auf diese Personen trefft.
Vor ein paar Jahren habe ich mir genau dieses Szenario vorgestellt. Auf meinem alten Handy existiert ein Dokument, in dem ich ein persönliches Gespräch mit meinem Protagonisten führe. Leider komme ich über die Cloud nicht mehr an die Datei, aber ich weiß noch in etwa, wie es sich abgespielt hat. Übrigens ein großer Vorteil, wenn man Dinge auf dem Handy schreibt: Wenn man unterwegs eh daran rumdaddelt, kann man sich auch alte Ideen und Gedanken durchlesen.
Fangen wir an. Seid ihr bereit, euren Protagonisten gegenüberzutreten? Dann los!
Du stehst auf einem Parkplatz. Vielleicht ist es der vor dem Supermarkt um die Ecke oder einer dieser Park & Ride Parkplätze vor der Autobahn. Möglicherweise befindet er sich auch im Wald nahe einer Wanderroute oder vor deiner Haustür. In den Slots stehen vereinzelnd Fahrzeuge, von Menschen allerdings fehlt jede Spur. Du trittst auf dem brüchigen Asphalt von einem Bein auf das andere, steckst die Hände in die Hosentaschen und siehst dich um. Dein Handy vibriert. Du holst es raus und siehst die Kalenderapp aufploppen, die dich an den Termin erinnert, der genau jetzt beginnt.
Ob es Tag oder Nacht ist, entscheidest deine Fantasie.
Während du auf dein Handy schaust, treten Füße über den oberen Rand in dein Sichtfeld. Du blickst auf. Deine Verabredung ist da. Kannst du dir vorstellen, wie eure Begrüßung aussehen würde? Nehmt ihr euch in den Arm, als wärt ihr alte Freunde? Oder seid ihr beide zurückhaltend? Ist es eure erste Begegnung? Es kann ja sein, dass du dich total freust, die Figur zu treffen, ihr endlich mal auf Augenhöhe begegnen zu können, doch freut sie sich auch? Ihr dürft euch auch nur kurz zunicken. Das ist voll okay.
Ihr habt es geschafft, euch an einem Ort zu treffen. Das ist gut. Jetzt seid ihr beisammen und könnt miteinander interagieren. Bei manchen steht wohl direkt ein ernstes Gespräch ganz oben auf der Liste der Dinge, die ihr miteinander machen könnt. Vielleicht wollt ihr auch sofort weiterziehen und etwas unternehmen? Die Möglichkeiten sind mannigfaltig.
Vergiss nicht: Es geht hier um die Beziehung zwischen Autor*in und Protagonist*in. Schöpfer und Schöpfung. Gott und Mensch. Ja, du bist in dieser gedanklichen Realität ein Gott. Du weißt alles, du hast die Welt geschaffen, du liebst deine Charaktere und du hast für jeden von ihnen einen Plan. Du entscheidest über Leben und Tod, über Naturkatastrophen und Sonnenschein, über Gut und Böse. Damit ist dir eine Macht zugeschrieben, die dein Charakter niemals erlangen wird. Du bist im Vorteil. Wie heißt es in den Spiderman-Comics? „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung“ Das gilt auch für dich!
An welcher Stelle deiner Geschichte befindet sich der Charakter? Das siehst du wahrscheinlich daran, wie sich die Person kleidet oder an ihrem Alter. Ich denke, auch ihr Auftreten dir gegenüber wird zeigen, was sie gerade durchmacht. Hier auf diesem Parkplatz unterbrichst du die Handlung des Buches und ziehst die Figur aus der Story. Du entscheidest, ob die Geschichte gerade erst losging, bereits mittendrin- oder schon beendet ist.
Dir fällt ein, dass du die Schlüssel zu einem der Autos dabeihast und schlägst vor, ein wenig herumzufahren. Dein Charakter steigt auf der Beifahrerseite ein. Du fährst. Ein Akt des Vertrauens.
Ihr kommt ins Reden. Dein Beifahrer ist an der Reihe und stellt diese eine Frage. Welche, ist dir überlassen. Aber sind wir mal ehrlich, jeder hat Fragen, die er oder sie einem Gott stellen würde. Es liegt nun an dir, diese Frage zu beantworten. Oder nicht. Beachte, dass euer Treffen außerhalb der Geschichte stattfindet. Sobald die Figur in sie zurückkehrt, ist es, als wärt ihr euch nie begegnet. Du kannst die Handlung innerhalb dieses Gedankenspiels nicht beeinflussen.
Ich bin mir sicher, dass es außerdem etwas gibt, das du der Figur sagen möchtest, aber nicht kannst. Hast du eine Idee, was das sein könnte? Nimm dir einen Moment Zeit. Halte inne. Dir schießen mit Sicherheit einige Gedanken durch den Kopf.
Ihr haltet an einer Tankstelle an. Du schlägst vor, Kaffee to go für euch beide zu kaufen. Deine Figur hat zwei Optionen. Sie entscheidet sich entweder dagegen, weil sie eher ein Teetrinker ist oder nimmt das Angebot an. Du kaufst zusätzlich noch Snacks, die ihr auf der weiteren Fahrt im Auto verputzt. Du bist ein Gott. Selbstverständlich weißt du, ob die Figur Kaffee und Snacks annehmen wird, oder?
Ihr fahrt auf die Autobahn. Die Straße ist frei, an euren Fenstern rasen die Leitplanken vorbei und die großen blauen Schilder leiten euch den Weg. Du schaltest einen Gang höher und gibst Gas. Mit einem Seitenblick siehst du die Reaktion des Charakters neben dir. Daraufhin musst du leicht grinsen. Du wusstes es! Dein Rücken presst sich in den Sitz, während du das Pedal durchdrückst und so schnell fährst, wie es der Wagen hergibt.
Doch was ist euer Ziel?
Denk gut darüber nach, denn ihr erreicht es gerade. Du verlässt die Autobahn. Der Wagen wird langsamer, dein Herz schlägt schnell.
Ich weiß nicht, wie lang ihr unterwegs wart, aber jetzt musst du einparken und dich verabschieden. Eure Zeit ist vorüber, der Charakter kehrt wieder in die Geschichte zurück, sobald er aussteigt. Du gibst ihm noch eine letzte Mitteilung mit auf den Weg. Und auch er richtet ein paar Worte an dich. Dann betätigt er die Türklinke und verlässt das Auto.
Ab dem Moment, als die Tür zufliegt, bist du wieder allein.
Konntest du es dir vorstellen? Mich würde echt interessieren, ob ihr aus diesem Treffen eine Erkenntnis oder etwas anderes ziehen konntet. Ich persönlich habe leider keine besonders guten Erfahrungen mit meinem Protagonisten gemacht. Er kam, weil er es musste. Ich hatte ihn per Brief eingeladen. Statt mich zu begrüßen, warf er mir nur einen genervten Blick zu. Sein Leben war dank mir nicht immer so verlaufen, wie er es sich gewünscht hatte. Wegen mir musste er einiges durchleben und das nahm er mir übel. Die erste Frage, die er mir stellte, war: Warum ich? Ich erklärte es ihm. Die Antwort stimmte ihn allerdings nicht zufrieden. Er wurde wütend, sogar laut. Er warf mir vor, dass es mich glücklich machte, andere leiden zu sehen und am liebsten hätte er mich komplett aus seinem Leben verbannt. Unser Treffen ging nicht gut aus. Er ist abgehauen, noch bevor ich ihm seinen Tee hinstellen konnte. Vielleicht war er auch sauer, weil ich ihm zuvor Kaffee angeboten hatte, den er normalerweise gar nicht trinkt.
Ich hätte es wissen müssen...
Kenne deine Charaktere! Dieser Text brachte mir nicht nur diese Erkenntnis, sondern brachte mich zum Glück auch etwas weiter voran. Ich denke oft daran, wie er mich abgelehnt hat und hoffe sehr, ja wirklich sehr, dass sich unsere Beziehung zueinander irgendwann bessert.
Die oben genannte kleine Einführung in das Treffen ist nur ein Beispiel. Es muss nicht auf einem Parkplatz stattfinden, du kannst die Figur auch in deine Wohnung einladen oder in ein Café. Ich wurde neulich gefragt, wie eine solche Verabredung aussehen würde, würde ich gleich drei meiner Charaktere auf einen Drink einladen. Ich wollte darüber eine Szene schreiben, so wie in meinem Handytext, doch schon während ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass das nichts gibt. Es handelte sich um die drei wichtigsten Personen in meiner Geschichte und ihre Beziehungen zueinander sind nicht gerade harmonisch. Eine Bar war so ziemlich der letzte Ort, an dem ich sie mir zusammen vorstellen konnte.
Schade. Aber woher weiß ich das? Weil ich sie mittlerweile wirklich gut kenne. Und das ist für eine Autorin doch das Wichtigste.
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